Rumpelstilzchen – Wer ist hier der Bösewicht?

Rumpelstilzchen – Wer ist hier der Bösewicht?

Nichts ist wie es scheint: Rumpelstilzchen.

Märchen kann man auf verschiedenen Ebenen deuten: soziologisch, entwicklungs- oder tiefenpsychologisch, pädagogisch, etc. Der Literaturwissenschaftler Wilhelm Solms ist überzeugt davon, daß jedes Märchen der Brüder Grimm immer auch eine moralische Dimension besitzt.

Er betont, daß man Märchen nicht nur durch die Brille des Erzählers lesen soll, sondern genau darauf achten sollte, was im Märchen geschieht. Denn die Wahrheit über die Figuren laut Solms „… kommt darin zum Vorschein, wie sie sich in den geschilderten Situationen verhalten“.

Aus moralischer Sicht hat in „Rumpelstilzchen“ fast jeder Dreck am Stecken: Ein armer Müller möchte vor dem König Eindruck machen und bietet ihm seine Tochter an mit der dreisten Lüge, sie könne Stroh zu Gold spinnen. Der König nimmt ihn beim Wort, läßt das Mädchen in eine Kammer voll Stroh sperren und droht ihr mit dem Tod, sollte sie kein Gold aus Stroh spinnen können.

Das Mädchen ist verzweifelt und beginnt zu weinen, Rumpelstilzchen erscheint und bietet seine Hilfe an, indem er selbst das Stroh zu Gold spinnt. Dies allerdings tut er nicht umsonst, sondern nur gegen Bezahlung: In der ersten Nacht nimmt er ihre Halskette, in der zweiten ihren Ring und in der dritten Nacht fordert er ihr späteres Kind.

Die Müllerstochter selbst erscheint hier zunächst als Opfer des Rumpelstilzchens und seiner überzogen wirkenden Forderung. Man übersieht jedoch leicht, daß sie sich in der dritten Nacht aus mehr oder weniger freien Stücken dazu entscheidet, die Dienste des Rumpelstilzchens in Anspruch zu nehmen. Der König droht ihr diesmal nämlich nicht mit dem Tod, sondern bietet ihr vielmehr die Ehe an, sollte sie auch diesmal wieder das Stroh in Gold verwandeln. Freilich nicht aus Liebe, sondern weil er glaubt „eine reichere Frau finde ich auf der ganzen Welt nicht“.

Rumpelstilzchen verlangt für seine Dienste das noch ungeborene Kind aus der sich anbahnenden Ehe und die Müllerstochter gibt es ohne Not preis. Sie müßte nur ablehnen und könnte gehen, doch vielleicht scheint ihr die Ehe mit dem König verlockend, sodaß sie die Folgen ihres Handelns beiseiteschiebt und sich dafür entscheidet, die Ehefrau eines Mannes zu werden, der ihr kurz zuvor mit dem Tod gedroht hat. Sie schließt einen Vertrag mit dem Rumpelstilzchen: Gold gegen Kind. Möglicherweise geht sie davon aus, daß es nicht zur Erfüllung des Vertrages kommen wird („Wer weiß, wie das noch geht“, dachte die Müllerstochter…). Die Geburt eines Kindes liegt für sie noch in weiter Ferne, die Hochzeit aber ist in greifbarer Nähe. Jedenfalls ist sie überrascht und erschrocken, als Rumpelstilzchen nach einem Jahr erscheint und die Erfüllung des Vertrages, also die Herausgabe des Kindes, fordert. Sie ist den Vertrag leichtfertig und um des eigenen Vorteils willen eingegangen, doch nun wird ihr mit einem Schlag bewußt, was sie getan hat.

Sie versucht, ihren Fehler wieder gut zu machen, das eigene Kind ist ihr nun doch mehr wert als alles, was sie besitzt, denn sie „bot dem Männchen alle Reichtümer des Königreichs an, wenn es ihr das Kind lassen wollte“. Doch Vertrag ist Vertrag und das Rumpelstilzchen beharrt auf dessen Einhaltung. Nun fängt die Königin an, „so zu jammern und zu weinen, daß das Männchen Mitleiden mit ihr hatte“. Das Jammern und Weinen der Königin könnte man als Reue über den Leichtsinn sehen, mit dem sie ihr eigenes Kind versprochen hat, nur um ein besseres Leben führen zu können.

Und diese Reue verfehlt ihre Wirkung nicht, sie bekommt eine zweite Chance, Rumpelstilzchen ist bereit, den Vertrag zu ändern: „Drei Tage will ich dir Zeit lassen. Wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.“ Als Leser finden sich die meisten schnell aufseiten der Königin wieder und sind erleichtert, wenn zum Schluß die Worte fallen „…heißt du etwa Rumpelstilzchen?“ und die Königin ihr Kind behalten darf.

Doch wer ist nun eigentlich der Gute, wer der Böse im Märchen? Schnell gerät das Rumpelstilzchen in den Verdacht, der Bösewicht zu sein, denn die Forderung nach dem Kind wirkt unangemessen, fast sittenwidrig. Die Müllerstochter erscheint uns als sein Opfer, dabei fordert Rumpelstilzchen nur, was ihm auf Basis des geschlossenen Vertrages zusteht.

Auch war es nicht das Rumpelstilzchen, das die Müllerstochter in ihre mißliche Lage gebracht hat, sondern es waren ihr eigener Vater und der goldgierige König. Von Gier getrieben bringen Vater und König, die eigentlich eine schützende Funktion haben sollten, das bis dahin vermutlich unschuldige Mädchen in eine Situation, in der es fahrlässig und unbedacht einen folgenschweren Vertrag schließt. „Rumpelstilzchen“ zeigt uns, welche Auswirkungen die Gier und das leichtfertige Schließen von Verträgen haben können, aber auch, dass die Dinge eben nicht immer so sind, wie sie uns auf den ersten Blick erscheinen.

[CHR]