Arzt sein.

Arzt sein.

Der Wunsch und die Wirklichkeit.

Als ich vor fast vierzig Jahren anfing, Medizin zu studieren, war ich voller Enthusiasmus und freute mich auf meinen zukünftigen Beruf. Ich glaubte, später alle Möglichkeiten zu haben, meine Patienten während ihres Genesungsprozeßes bestmöglich zu unterstützen.

Ein Medizinstudium dauert in der Regel sechs Jahre, die Weiterbildung zum Allgemeinmediziner weitere fünf Jahre. Es schließen sich Lehrzeiten für Zusatzqualifikationen an und eine bis an das Berufslebensende vorgeschriebene Verpflichtung, sich regelmäßig in der Freizeit und auf eigene Kosten fortzubilden. Von der Einhaltung all dieser Vorgaben versprach ich mir freie Hand, meine Patienten gemäß dem Status „Freiberufler“ und dem Glaubenssatz „Wer heilt, hat Recht.“ zu behandeln.

Nach Jahren in der Flug- und Reisemedizin erwarb ich einen Kassenarztsitz und arbeitete fortan als niedergelassene Hausärztin. Ich dachte, ich könnte alles für meine Patienten tun und verordnen, was diese brauchen. Das Erwachen war hart: Zum einen weiß man als Arzt erst ein bis zwei Jahre später, wie viel man in einem Quartal verdient hat, zum anderen muß man der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) gegenüber jede Kleinigkeit bezogen auf eine Behandlung erklären und dokumentieren. Hierauf entfallen geschätzt etwa 60 Prozent der Arbeitszeit. Zeit, die man nicht für den Patienten zur Verfügung hat.

Die Abrechnung der Leistungen des Arztes erfolgt über einen festgelegten Bewertungsmaßstab. Die Gelder hierfür werden der sogenannten Gesamtvergütung entnommen, welche von den Krankenkassen gestellt wird und der KV zur Weiterverteilung an den Arzt zur Verfügung steht. Außer Impfungen, die als staatlich gewollt gefördert werden, sind fast alle Leistungen budgetiert. Das bedeutet, daß ein Arzt z. B. pro Patient und Quartal nur eine bestimmte Anzahl Therapien verordnen darf. Verordnet er mehr und kann dieses Vorgehen nicht schlüssig erläutern, muß er die Kosten selber tragen. Das Gleiche gilt, wenn man nach Ansicht der KV zu viele Originalpräparate oder ein zu teures Heilmittel verordnet.

Während meiner Zeit als praktizierende Kassenärztin wurden die Behandlungsleitlinien eingeführt. Das sind Vorgaben, wie Patienten zu behandeln sind, wenn ihnen eine bestimmte Diagnose gestellt wird. Wenn ein kassenärztlich arbeitender Arzt davon abweicht, hat er sich dafür zu rechtfertigen, selbst wenn der Behandlungserfolg ihm recht gibt. Wird nicht nach Vorgaben der V dokumentiert, wird der Arzt in Regreß genommen und muß die Differenz der Kosten bezahlen. Zum Leidwesen der Patienten wurden gleichzeitig die sogenannten Gesprächsziffern aus dem Abrechnungskatalog gestrichen, was bedeutet, dass der Arzt für ausführliche therapeutische Gespräche kein Geld mehr bekommt. Mit einem freien Beruf hatte dies alles für mich nichts mehr zu tun und hat es bis heute nicht.

Nachdem es also für uns Kassenärzte primär darum ging, daß wir den Vorgaben der KV entsprechen, daß wir nie Planungssicherheit hatten und ab einer gewißen Patientenanzahl auch die Grundbesoldung pro Patient und Quartal sank, dachte ich eines Tages: „Ich habe nicht studiert, um 3-Minuten-Medizin zu machen.“

Ich verließ die Kassenmedizin und eröffnete eine kleine Privatpraxis, in der die Patienten von mir neben meiner Expertise nun die Zeit und Zuwendung bekommen, die sie benötigen, um von ihren Krankheiten geheilt werden zu können. Obzwar ich nach einer völlig veralteten Gebührenordnung von 1982 abrechnen muß, fühle ich mich jetzt als Freiberuflerin und habe endlich große Freude an meiner Tätigkeit. Die Versicherungsmedizin, wie sie heute praktiziert wird, gehört meines Erachtens vollständig und zum Wohle von Patient und Arzt erneuert. Nur dann haben auch meine Arztkollegen wieder die Chance, im Sinne der Patientengesundung zu agieren. Ohne ständige Angst vor Regressen oder gar darum, ihre Zulassung zu verlieren, nur weil sie ihren Patienten das verordnen, was diese zur Heilung benötigen. Und nur dann werden sich auch die Patienten wieder gut begleitet fühlen und das Arzt-Patienten-Verhältnis so vertrauensbasiert sein, daß eine größtmögliche Heilung für den Patienten wieder möglich wird.

[Autor der Redaktion bekannt.]