Frau Holle.

Frau Holle.

Frau Holle. Ein überholtes Rollenklischee?

Ein gewissenhaftes Mädchen kommt durch fleißige Arbeit im Haushalt zu Reichtum. Darf man so eine Geschichte heutzutage überhaupt noch erzählen? Märchen sind nicht nur bloße Geschichten, sie bringen uns vielmehr die Ordnungsstrukturen des Lebens näher, transportieren bestimmte Botschaften und sprechen das Unbewußte in uns an. So auch das Märchen Frau Holle, das von einer Witwe und ihren beiden Töchtern handelt, die eine fleißig und schön, die andere faul und häßlich.

Die fleißige und schöne ist die Stieftochter und muß alle Arbeit allein verrichten, während die häßliche und faule als leibliche Tochter gut von der Mutter behandelt wird. Das fleißige und schöne Mädchen muß von morgens bis abends spinnen, bis ihm die Finger bluten. Als es sich am Brunnen waschen möchte, fällt die Spule hinein. Die Stiefmutter verlangt, diese wieder heraufzuholen („Sie schalt es aber so heftig und war so unbarmherzig, daß sie sprach: ‚Hast Du die Spule herunterfallen lassen, so hol‘ sie auch wieder herauf.‘“). Trotz seiner großen Angst faßt sich das Mädchen ein Herz und wagt den Sprung ins Unbekannte. Es gelangt in eine andere Welt, in der es sich drei Aufgaben stellen muß.

Zuerst wird es auf einer Wiese von fertig gebackenem Brot darum gebeten, es aus dem Ofen zu holen. Dann soll es reife Äpfel vom Baum schütteln, bevor es zuletzt bei Frau Holle angelangt, für die es zu arbeiten beginnt. Obwohl es ihm bei ihr so gut geht wie nie zuvor, bekommt das Mädchen nach einiger Zeit Heimweh. Frau Holle führt es zu einem Tor, wo es zum Abschied nicht nur seine Spule zurückerhält, sondern auch noch mit Gold belohnt wird. So kehrt die Goldmarie nach Hause zurück.

Das faule Mädchen ist neidisch auf das Gold und begibt sich auf dieselbe Reise. Es sticht sich mit der Spule in den Finger, springt dann in den Brunnen und landet ebenfalls in der anderen Welt. Dort erledigt es aber keine der ihm gestellten Aufgaben und wird am Schluß der kurzen Reise von Frau Holle mit Pech überschüttet, weshalb es den Namen Pechmarie bekommt.

Das Märchen vollständig auszudeuten, würde hier zu weit führen, daher ein Versuch in aller Kürze: Wir sehen eine spirituelle Entwicklung vom Mädchen zur Frau. Die Mutter verlangt von ihrer Tochter, sich auf eine unbekannte Reise in eine andere Welt zu machen, womit hier eine geistige Innenwelt gemeint ist. Aufgrund ihrer angstmachenden Forderung wird die Mutter in dieser Situation eher als Stiefmutter wahrgenommen. Der Sprung in den Brunnen ist gleich einem Sprung in das eigene Innerste, zum eigenen Wesenskern. Frau Holle ist die Vertreterin der spirituellen Welt, sie begleitet das Mädchen dabei, seine Fähigkeiten zu entwickeln.

Es lernt bei Frau Holle den Haushalt zu führen, wobei es hier nicht darum geht, zu kochen, zu putzen und dem Mann zu gefallen, sondern um das Erlangen umfangreicher Kenntnisse über das Wirtschaften, was wiederum gleichbedeutend damit sein kann, das eigene Innere in Ordnung zu halten. Das Mädchen bewältigt die gestellten Aufgaben und entscheidet selbst, wieder in ihren Alltag zurückzukehren. Ihr inneres Wesen ist gestärkt, nach außen wird dies sichtbar durch das Gold. Sinnbildlich strahlt das Mädchen Selbstbewusstsein aus. Sie bekommt ihre Spule wieder, kann damit ihren Lebensfaden weiterspinnen und nimmt somit ihre Geschicke wieder selbst in die Hand.

Die faule Schwester strebt nicht nach Erkenntnis, sondern nur nach materiellem Besitz. Ihre Finger sind nicht blutig von der Arbeit, sondern weil sie sich absichtlich gestochen hat. Sie täuscht etwas vor, was auf mangelnde Reife schließen läßt und ist noch nicht bereit für die spirituelle Entwicklung. Sie übernimmt keine Verantwortung, hilft weder dem Brot noch den Äpfeln und faulenzt, anstatt für Frau Holle zu arbeiten. Dafür kann sie kein Gold erhalten, sie bekommt das Pech.

Wir leben in einer modernen und vor allem materiell geprägten Welt. Versteht man die beiden Mädchen als Vertreterinnen zweier gegensätzlicher Aspekte im Menschen, dem Streben nach materiellem Besitz und dem Streben nach spiritueller Weisheit, dann wird die Aktualität deutlich. Das Märchen stellt uns vor zentrale Fragen: Wie führe ich ein erfülltes Leben aus meinem Innersten heraus? Wie wichtig sind mir Statussymbole und physisches Eigentum? Die Beantwortung dieser Fragen ist eine wiederkehrende lebenslange Aufgabe, an die Frau Holle uns von Zeit zu Zeit erinnern kann.

[CHR]