Pflegenotstand – Fachkräftemangel?
Während bis ins Jahr 1995 die Krankenkassen alleine für die Pflegekosten aufkamen, wurde in der Regierungszeit Helmut Kohls das Konzept der Pflegeversicherung aus der Taufe gehoben. Für Familien mit schwerstpflegebedürftigen Kindern, aber auch anderweitig schwersten Pflegefällen bedeutete das einen Segen, denn für derart leidgeprüfte Familien gab es damals keinerlei Anlaufstellen oder gar staatliche Hilfsangebote.
Meist war der erforderliche Pflegeaufwand mit einem Verdienstausfall verbunden, was einige betroffene Familien in eine hoffnungslose Verschuldung stürzte. Mit Einführung der Pflegeversicherung entwickelte sich ein völlig neuer Markt. Pflegeheime entstanden, dazu eine Vielzahl neuer Pflegeberufe mit ausgezeichneten Qualifikationen. Es entstanden Begehrlichkeiten. Während die Pflegekräfte auf den Markt drängten, kämpften Angehörige von Pflegebedürftigen um die damals noch raren Heimplätze. Konnten sie ihren eigenen Arbeitsplatz erhalten, statt ihn gegen Versorgung von Familienmitgliedern einzutauschen, brauchten sie keinen Einbruch in ihre künftige Altersrente zu befürchten.
Das für häusliche Pflege ausgezahlte Pflegegeld entpuppte sich als unzureichend, da es den entgangenen Arbeitslohn nicht auszugleichen vermochte. Ans Sparen für das eigene Alter war in häuslicher Pflege nicht zu denken. Den vielen Heimgesuchen war anfangs nur schleppend nachzukommen. Es fehlte sowohl an Pflegeheimen selbst, als auch an Pflegekräften. Rasch entwickelte sich jedoch ein regelrechter Boom, der zur Folge hatte, daß durch das Verlagern von der privaten Pflege innerhalb der Familie hin in einem professionellen Pflegesektor die Landeswohlfahrtsverbände, Pflegeversicherer und Krankenversicherungen Finanzierungsprobleme bekamen.
Kontinuierlich wurde reformiert, die Einnahmen für die Sozialverbände mußten steigen. Das geschah durch die Anhebung der Beiträge. Betrug bei Einführung der Pflegeversicherung der Beitragssatz für den Arbeitnehmer 1 %, ist er heute auf mehr als das Dreifache angestiegen. Neben den Arbeitnehmern werden mittlerweile auch Arbeitgeber und Selbständige sowie Beamte in die Pflichtversicherung einbezogen. Aber auch die Anzahl der Pflegebedürftigen steigt an. Sie steigerte sich allein um 41 % vom Jahre der Einführung der Pflegeversicherung bis hin zum Jahre 2012. Bis 2035 wird die Generation der sogenannten Babyboomer, also der geburtenstarken Jahrgänge, die Anzahl der hochbetagten Pflegebedürftigen noch einmal um das Hundertfache anwachsen lassen.
Pflegenotstand und Fachkräftemangel werden heute bereits beklagt, der Mangel wird sich noch verschärfen. Zu beobachten ist auch eine noch nicht erklärbare Zunahme von Demenzerkrankungen bei Pflegebedürftigen und damit verbunden ein wesentlich höheres Maß an Hilfsbedürftigkeit, kommt doch zur Pflege der Betreuungsbedarf noch hinzu. Durch den entstandenen Kostendruck suchte man Wege, die häusliche Pflege aufzuwerten. Neben dem Pflegegeld werden nun dem pflegenden Angehörigen Beiträge in die Rentenversicherung gezahlt. Preiswerte ausländische Hilfskräfte zu beschäftigen wird auf Antrag gewährt, um Überforderungen zu vermeiden. Doch dank Corona konnte diese Freizügigkeit nicht mehr im gewohnten Maße beibehalten werden. Innerhalb von Gesellschaft und Medien wird der Pflegenotstand bereits diskutiert.
Mitarbeiter in der Altersbetreuung lieben ihren Beruf, sind hilfsbereite und freundliche Menschen, die sich mühen, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Doch seit der Einführung der Pflegeversicherung leisten sie Hilfe nach einem straff organisiertem Regelwerk im Minutentakt wie ein Werktätiger am Fließband. Zuwendung für Gebrechliche und Kranke war in dieses Geschäftsmodell „Pflege“ nie einkalkuliert. Darf es sein, daß der Umgang mit unseren Familienmitgliedern zu einem Profitgeschäft verkommt, wo sich wiedermal konzernartige Strukturen bilden, die Gewinne erzeugen und der menschliche Faktor nur eine Nebenerscheinung ist?
Still, satt und sauber lautet unter vorgehaltener Hand die Devise. Kaum zu glauben, daß ein hoher Prozentsatz des Personals auch noch Schichtdienst leistet. Nachts arbeiten, tagsüber für die Kinder und die Familie da sein und meist nebenbei noch den Haushalt machen ist eine absolute Höchstleistung. Wenn da die Krankheitstage steigen, wen wundert das? Dieser Notstand ist nur durch mehr Personal, eine angemessene Bezahlung und die Reduzierung der Arbeitslast zu lindern.
Wer in seinem Beruf als Pflegefachkraft bis ins Renteneintrittsalter durchhalten möchte, überlegt sich möglicherweise sehr genau, wie viele Kinder er selbst bekommen möchte, vielleicht sogar, ob er überhaupt eine Familie gründen sollte. Und das in einer voranschreitenden Überalterung der Gesellschaft.
Sollten nicht vielleicht Bedingungen geschaffen werden, damit – wie früher – unsere Familienangehörigen zu Hause und im Kreise der Liebsten betreut werden können? Daß sich wieder alle Teile der Familie über mehrere Generationen hinweg gegenseitig unterstützen können? Für die eine oder andere Familie wäre dies bei entsprechender Neugestaltung der Rahmenbedingungen sicherlich eine schöne Alternative zum jetzigen Zustand.
[SIH]
Quellenverweise.
Geschichte der Pflegeversicherung:
Altenheime als Geschäftsmodell:
Hoher Krankenstand in Pflegeberufen:
➘ https://www.aerzteblatt.de/nachrichten-104149-Hoher-Krankenstand-in-Pflegeberufen
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